Wehrmachtsdeserteure. Neue Forschungen zu Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung und (digitaler) Gedächtnisbildung

Wehrmachtsdeserteure. Neue Forschungen zu Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung und (digitaler) Gedächtnisbildung

Organisatoren
Ingrid Böhler / Peter Pirker, Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck; Kerstin von Lingen, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
Ort
Innsbruck
Land
Austria
Vom - Bis
16.09.2021 - 18.09.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Peter Pirker / Aaron Salzmann, Institut für Geschichte und Europäische Ethnologie, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Die gesetzliche Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure und anderer Opfer der NS-Militärjustiz in Deutschland und Österreich liegt mittlerweile fast zwei Jahrzehnte zurück. Sie basierte im Wesentlichen auf dem Nachweis des Unrechtscharakters der Wehrmachtsjustiz durch Forschungen seit den 1980er-Jahren. Die internationale Tagung versammelte Forscher:innen, Mitarbeiter:nnen von Erinnerungsstätten und Museen sowie Künstler:innen, um neue Zugänge zum Phänomen der „Fahnenflucht“ zu präsentieren und zu diskutieren.

Einleitend skizzierte KERSTIN VON LINGEN (Wien) einige übergreifende Überlegungen, die bei der Konzeption der Tagung Pate standen: Aus den Blickwinkeln verschiedener Akteure, unter Berücksichtigung diverser räumlicher und ethnischer Bezüge sollte die Selbstermächtigung von Soldaten gegenüber dem militärischen Gehorsamsanspruch des NS-Regimes betrachtet werden. Die Praxis des Desertierens, die Verfolgungspraxis der Militär- und Sonderjustiz sowie die Rolle von Deserteuren für die Gedächtnisbildung zum Zweiten Weltkrieg ließen sich als Grenzüberschreitungen und Neuverhandlungen von sozialen und nationalen Zugehörigkeiten interpretieren.

Das erste Panel eröffnete PETER PIRKER (Innsbruck) mit einem Einblick in laufende Forschungsprojekte über Deserteure der Wehrmacht in Tirol, Südtirol und Vorarlberg. Pirker erläuterte räumliche Charakteristika, territoriale und ethnische Grenzziehungen sowie den Partisanenwiderstand in Jugoslawien und Norditalien als Faktoren, die das Desertionsgeschehen im östlichen Alpenbogen beeinflussten. Bisher wurden aus einer Vielzahl von Quellen mehr als 1.300 Fälle von Entziehungen eruiert. Pirker plädierte dafür, die Erfahrungs- und Handlungsräume flüchtiger Soldaten besser auszuleuchten und ihre Praxis stärker als Form der Selbstverteidigung zu betrachten.

AARON SALZMANN (Innsbruck) beschäftigte sich mit dem Sondergericht (SG) Feldkirch in Vorarlberg, zu dessen Funktionen die Verfolgung von Wehrdienstentziehern und Helfer:innen von Deserteuren gehörte. Anhand einer Analyse aller relevanten überlieferten Akten des SG Feldkirch konnte er zeigen, dass die vermeintlich günstigen Fluchtmöglichkeiten in die Schweiz junge Männer, Ehe- und Liebespaare aus dem gesamten Deutschen Reich anzogen. Ein Vergleich mit Akten des SG Innsbruck und des SG Bozen erbrachte deutliche regionale Unterschiede sowohl bei der Flucht- als auch bei der Verfolgungspraxis in Vorarlberg, Tirol und Südtirol.

MARTHA VERDORFER (Bozen) untersuchte das Verhältnis Südtiroler Männer zur Wehrmacht. Zunächst führte die „Option“ von 1939 zu freiwilligen Meldungen und Einziehungen unter Optanten für Deutschland. Im September 1943 änderte sich die Situation für die „Dableiber“, die nach der Einrichtung der Operationszone Alpenvorland nun ebenfalls einberufen wurden, obwohl sie italienische Staatsbürger waren. Neben kriegsmüden Optanten flüchteten nun vor allem „Dableiber“ vor der Wehrmacht. Verdorfer zeigte Strategien von Deserteuren in der mehrsprachigen Gesellschaft und thematisierte dabei die Grenzlage zur Schweiz, die Nähe italienischsprachiger Gemeinden und die Rolle von Frauen bei der Fluchthilfe.

EDITH HESSENBERGER (Ötztal) verglich auf der Basis von lebensgeschichtlichen Interviews die Überlieferung von Desertionserfahrungen im Tiroler Ötztal und im Vorarlberger Montafon. In beiden hochalpinen Regionen versteckten sich ab 1943 größere Gruppen von Deserteuren. Hessenberger zeigte unterschiedliche Deutungen und Begriffe, mit denen die Praxis der Desertion bezeichnet wurde. Die Tabuisierung der Flucht aus der Wehrmacht schien nach 1945 im Ötztal stärker gewesen zu sein als im Montafon, wo mit der Bezeichnung „Waldhocker“ sogar ein eigener Begriff für die Deserteure entstand.

Das zweite Panel wandte sich der justiziellen Verfolgung von Deserteuren zu. LARS SKOWRONSKI (Halle/Saale) behandelte die bisher kaum untersuchten Fahnenflucht-Verfahren des Reichskriegsgerichts (RKG). Das in diversen europäischen Städten verhandelnde Gericht beschäftigte sich grundsätzlich nur selten mit Fällen von Wehrdienstentziehung. Wenn sie aber in Kombination mit regimegefährdenden Delikten wie Hochverrat auftrat, wurden die entsprechenden Fälle häufig an das RKG abgetreten. 63 Prozent dieser Fälle endeten mit einem Todesurteil. Skowronski betonte, dass die bei Wehrmachtsgerichten häufig feststellbare soziale Abwertung von Deserteuren in den Urteilen des RKG fehlte.

CLAUDIA BADE (Hamburg) berichtete über die Urteilspraxis von Richtern des Ersatzheers. Dieses hielt die Befehlsgewalt über circa 25 Prozent aller Soldaten der Wehrmacht, darunter auch über beurlaubte, verwundete oder erkrankte Wehrmachtangehörige. Am Beispiel des Gerichts der Division Nr. 190/490 Hamburg/Neumünster zeigte Bade eine immer schärfer werdende Urteilspraxis gegen Deserteure auf, die sich in einer dramatisch steigenden Zahl von Todesurteilen äußerte. Sie stellte heraus, dass viele Urteilsbegründungen am nationalsozialistischen „Täterstrafrecht“ orientiert waren, also eher an einer einschlägigen Beschreibung der Gesinnung und Persönlichkeit der Angeklagten („unverbesserlich“, „minderwertig“, etc.) als an der strafbaren Handlung.

CHRISTOPHER THEEL (Dresden) thematisierte die SS- und Polizeigerichtsbarkeit. Angehörige von SS und Polizei standen unter besonders hoher Treuepflicht, die idealerweise aus freiwilliger Einsicht, nicht aus Furcht vor Strafe zu erfüllen war. Bis Ende Juni 1944 vollstreckten SS- und Polizeigerichte 1.001 Todesurteile. Theel diskutierte Milderungsgründe, beispielsweise Differenzierungen nach dem Grad der erwarteten Verpflichtung gegenüber der deutschen „Volksgemeinschaft“ – so beurteilten SS-Richter Fahnenfluchten von volksdeutschen oder nicht-deutschen Freiwilligen nachsichtiger als jene von reichsdeutschen SS-Männern.

Das dritte Panel beschäftige sich mit Handlungsspielräumen zwischen Front und Heimat. RICHARD GERMANN (Wien) wies zunächst auf die Bedeutung von Entziehungsformen hin, die Soldaten innerhalb des Systems zu nutzen versuchten, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Genauer ging er dann auf Desertionsversuche in Felddivisionen ein, die an der Ostfront eingesetzt waren. Er stellte eine – verglichen mit anderen Divisionen – hohe Zahl an Todesurteilen wegen Fahnenflucht bei der vor allem aus Oberösterreichern zusammengesetzten 45. Infanteriedivision fest. Die jeweilige Spruchpraxis war stark von der Kriegslage und der Strenge der Richter abhängig.

MARIA FRITSCHE (Trondheim) untersuchte das Verhältnis zwischen Wehrmachtsdeserteuren und der norwegischen Bevölkerung, die während der Besatzung auch der militärischen Jurisdiktion unterworfen war. Die Wehrmachtsgerichte standen dabei vor zwei Dilemmata: erstens, ob sie Hilfe Einheimischer für Deserteure als deutschfreundliche oder -feindliche Haltung einstufen sollten, zweitens, ob die deutsche Besatzung durch milde Urteile gegen Helfer:innen mehr Akzeptanz erreichen könne. Fritsche schlug vor, den Blick auf die Militärjustiz zu weiten und sie im Besatzungskontext auch als eine Form der soft power zu betrachten.

Über Deserteure und deren Angehörigen in Hamburg sprach MAGNUS KOCH (Hamburg). Er machte zunächst auf die enge Verflechtung von militärischen und zivilen Verfolgungsinstanzen aufmerksam, die den Handlungsspielraum von flüchtigen Soldaten stark einschränkten. Koch argumentierte, dass es einen hohen Systemkonformismus innerhalb der Militärjustiz und anderer staatlicher Institutionen gab. Überleben hing in der Hamburger Stadtgesellschaft kaum von längerfristigen Überlegungen der Deserteure als vielmehr von Zufällen ab, wobei genauere milieuspezifische Untersuchungen interessant wären. Generell setzte sich die negative Haltung gegenüber Deserteuren nach 1945 in Form von Ausgrenzung und Benachteiligung fort.

Fluchtperspektiven standen im Fokus des vierten Panels. MICHAEL KASPER (Schruns) nahm die Gebirgsgrenze zwischen Vorarlberg und der Schweiz unter die Lupe, genauer die Interaktionen zwischen Deserteuren und Schleusern auf der einen und deutschen und schweizerischen Grenzschützern auf der anderen Seite. Hier kam es zu verschiedenen Verläufen: von Schleppen und geglückter Flucht über Ausbeutung und Denunziation bis hin zu Selbstmorden und Schusswechseln mit Toten auf beiden Seiten.

Desertionen aus den besetzten Ländern Norwegen und Finnland in das neutrale Schweden erläuterte LARS HANSSON (Gøteborg). Er konnte bislang 840 Wehrmachtssoldaten eruieren, denen der Grenzübertritt gelungen war, 85 Prozent bei Fluchten im Herbst 1944 und im Frühjahr 1945. In Schweden bemühten sich deutsche und österreichische Exilanten um die Wehrmachtsflüchtlinge. Der kollektive Grenzübertritt von 70 Deserteuren am 8. Mai 1945, nachdem zwei deutsche Offiziere erschossen worden waren, spielte in der Diskussion über die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure in Österreich (Stichwort „Kameradenmörder“) eine nicht unbeträchtliche Rolle.

BRIGITTE ENTNER (Klagenfurt) analysierte Wehrdienstentziehungen von Kärntner Slowenen. Bereits 1938 flüchteten die ersten Wehrpflichtigen nach Ljubljana ins Exil. Nach der Zerschlagung Jugoslawiens 1941 und angesichts der antislowenischen Politik des NS-Regimes stieg die Zahl der Flüchtigen stetig, mit einem deutlichen Höhepunkt im Jahr 1944, als die slowenische Partisanenbewegung auch innerhalb der Reichsgrenzen bessere Zufluchts- und Widerstandschancen eröffnete. In dem von Entner untersuchten Sample erlebte jedoch nur etwas mehr als die Hälfte der Deserteure das Kriegsende.

Das fünfte Panel war den Schauplätzen Italien und Jugoslawien gewidmet. FRANCESCO CORNIANI (Köln) präsentierte Ergebnisse seiner jüngst abgeschlossenen Dissertation zum Thema Wehrmachtsdeserteure in Italien. Insgesamt war die Zahl der Deserteure aus der 10. Armee überschaubar, im Juli 1944 (nach der alliierten Einnahme Roms) stieg sie aber vorübergehend deutlich an (1.635 Fälle zwischen Juli und September 1944). Dabei war nur ein Viertel der Deserteure reichsdeutscher Herkunft, die große Mehrheit bildeten volksdeutsche Soldaten sowie Mitglieder der Deutschen Volksliste III und russische Rekruten. Die Motive sah Corniani ganz unterschiedlich gelagert: situativ-spontane Entschlüsse, Freiheitssehnsucht, Angst vor Strafen, Sorge um Angehörige.

Über die Desertion von einheimischen SS- und volksdeutschen Soldaten zu jugoslawischen Partisanen referierte SABINA FERHADBEGOVIĆ (Jena). In der Frühphase der Besatzung riefen kommunistisch geführte Gruppen die deutschen Soldaten zum Widerstand als Akt der internationalen Solidarität auf – mit geringem Erfolg. Später waren die Appelle, sich der (Zwangs-)Mobilisierung zu entziehen und mit den Partisanen für die nationale Verteidigung Jugoslawiens zu kämpfen, an Volksdeutsche und andere Einheimische gerichtet. Am Beispiel zweier SS-Freiwilligen-Divisionen zeigte Ferhadbegović, dass wohl weniger diese Appelle denn Amnestieangebote zu tausenden Übertritten führten.

Keine ähnlich große Zahl an Übertritten zu den Partisanen konnte KERSTIN VON LINGEN bei den Kosaken- und Kaukasierverbänden der Wehrmacht feststellen. Sie bezog sich auf die 1944 in der Provinz Udine der Operationszone Adriatisches Küstenland zur Bekämpfung der Partisanen eingesetzten Regimenter. Speziell macht diesen Fall, dass es sich nicht bloß um Soldaten, sondern auch um Zivilist:innen, mithin um Flüchtlinge vor der Roten Armee handelte, die das Gebiet als künftigen Siedlungsraum betrachteten. Ähnlich wie bei anderen Siedlungsplänen der Nationalsozialisten waren Vertreibung und Gewalt vorprogrammiert. Ein weiterer Grund für die geringe Zahl von Überläufern dürfte die Ungewissheit über die Behandlung durch die Alliierten nach Kriegsende gewesen sein.

Die Rolle von Deserteuren als Zeugen in Prozessen zur Ahndung deutscher Kriegsverbrechen beleuchtete CARLO GENTILE (Köln). Ihre Aussagen in Prozessen in den ersten Nachkriegsjahren, aber auch in den 1990er- und 2000er-Jahren waren wesentlich für die Ermittlung und Bestrafung der Täter. Die Deserteure hatten die Verbrechen entweder beobachtet oder selbst daran teilgenommen. Gentile betonte, dass ihre Aussagen zudem wertvolle Einblicke in die Gewaltdynamiken in kleinen militärischen Gruppen und in die Binnenstrukturen von in Verbrechen involvierten Truppenteilen bieten.
Die beiden letzten Panels waren der Gedächtnisbildung gewidmet.

JOHANNES KRAMER (Wien/Bozen) untersuchte die Südtiroler Veteranengesellschaft nach 1945 am Beispiel des Südtiroler Kriegsopfer- und Frontkämpferverbands. Er identifizierte Pflichterfüllungs-, Opfer- und Friedensnarrative. Deutlich wurde, dass letzteres inkompatibel war mit dem Friedensnarrativ der Friedensbewegung, die in den 1970er- und 1980er-Jahren erstmals die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure forderte. Kramer plädierte für eine intensivere Beschäftigung mit den lange gesellschaftlich einflussreichen „pazifizierten Kampfgemeinschaften der Wehrmacht“.

ROBERT PARZER (Torgau) beschäftigte sich mit der Erinnerungskultur zum Deserteur Fritz Schmenkel (1916-1944) in der DDR. Eingangs wies er auf die nach wie vor schlechte Quellenlage zur Desertion Schmenkels in der Sowjetunion hin, was seine Motive und Überzeugungen kaum nachvollziehbar mache. Der 1941 zu Partisanen übergelaufene Soldat kämpfte bis 1944 in ihren Reihen, ehe er gefasst, von einem Kriegsgericht verurteilt und erhängt wurde. 1964 wurde ihm der Titel „Held der Sowjetunion“ verliehen, erst danach ehrte ihn die DDR, die sich mit der Würdigung von Deserteuren schwertat.

Mit dem diffizilen Thema der familiären Gedächtnisbildung setzte sich MARIA POHN-LAUGGAS (Göttingen) auseinander. Basierend auf familien- und lebensgeschichtlichen Interviews mit Angehörigen der zweiten und dritten Generation zeichnete sie die Dethematisierung der Desertions- und Verfolgungserfahrung eines Vaters und Großvaters nach. Sie war sowohl durch gesellschaftliche Tabuisierung als auch durch innerfamiliäre Gewalt entstanden. Pohn-Lauggas beobachtete, dass erst der jüngste Meinungswandel zu Deserteuren eine partielle Integration der Leiderfahrung des Großvaters in das Familiengedächtnis ermöglichte.

Mit gegenwärtigen Interventionen beschäftigte sich das letzte Panel. MARCO DRÄGER (Göttingen) berichtete über die ambivalente Geschichte der mittlerweile 50 Erinnerungszeichen für Deserteure in Deutschland. Er konstatierte zwar eine große Akzeptanz, aber geringe Aufmerksamkeit für sie. Am Beispiel von Deserteurs-Denkmälern in Hannover und Wien plädierte er für eine stärkere Nutzung neuer Medien, die Einbeziehung lokaler Beispiele und lokale Netzwerkbildungen. Letzteres skizzierte er anhand der Vorbereitung der Schau „Was damals Recht war … − Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht“ für den nächsten Präsentationsort Hannover.

Eine Intervention im digitalen Raum stellte schließlich das KÜNSTLERKOLLEKTIV TOTAL REFUSAL (Graz/Wien) vor. Sein Kurzfilm „How to Disappear“ zeigt den (vergeblichen) Versuch, im Ego-Shooter-Spiel „Battlefield V“ zu desertieren. Der Film vermittelt essayhaft die Geschichte der Disziplinierung und Desertion von Soldaten und hinterfragt zugleich den konzeptuell und technisch vorgegebenen Rahmen für das Verhalten des Kriegers auf dem digitalen Schlachtfeld.

Als Resümee der Tagung lässt sich festhalten, dass die Beiträge eine deutliche Ausweitung der Forschungsperspektiven zum Thema Desertion aus den deutschen Streitkräften in den letzten Jahren gezeigt haben. Dies betrifft die stärkere Berücksichtigung ihrer multinationalen Zusammensetzung und die genauere Betrachtung topographischer, zeitlicher, kriegs- und besatzungspolitischer Kontexte sowohl von Entziehungshandlungen als auch ihrer justiziellen und polizeilichen Verfolgung. Auch die Geschichte der Gedächtnisbildung nach 1945 scheint allmählich aus dem prägenden Rahmen des Veteranendiskurses und der folgenden Rehabilitierungsdebatte herauszutreten.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einleitung

Ingrid Böhler (Leiterin des Instituts für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck), Dirk Rupnow (Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät, Universität Innsbruck), Kerstin von Lingen (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien; Vorstandsmitglied im Arbeitskreis Militärgeschichte)

Panel 1: Desertieren im alpinen Raum
Chair: Ingrid Böhler

Peter Pirker (Universität Innsbruck): Fahnenflucht in den Alpen

Aaron Salzmann (Universität Innsbruck): Fahnenfluchten im Spiegel der Akten des Sondergerichts Feldkirch (verhindert, Inhalt präsentiert von Peter Pirker)

Martha Verdorfer (Bozen): Desertieren in der mehrsprachigen Grenzregion Südtirol

Edith Hessenberger (Ötztal Museen): Was blieb von den Deserteuren in der lokalen Erinnerung?

Panel 2: Soldaten vor Gerichten der Wehrmacht, der Waffen-SS und SS
Chair: Peter Pirker

Lars Skowronski (Gedenkstätte Roter Ochse, Halle/Saale): Deserteure vor dem Reichskriegsgericht

Claudia Bade (Hamburg): Urteilspraxis an Gerichten des Ersatzheeres in Hamburg

Christopher Theel (Dresden): „Meine Ehre heißt Treue“? Die Behandlung von Fahnenfluchtfällen in der SS- und Polizeigerichtsbarkeit

Panel 3: Handlungsspielräume zwischen Front und Heimat
Chair: Nikolaus Hagen

Richard Germann (Universität Wien): Zwischen Gehorsam und Selbstermächtigung im Feld: Grenzen und Möglichkeiten im Spiegel von Militärakten „ostmärkischer“ Divisionen

Maria Fritsche (Norwegian University of Science and Technology, Trondheim): Wehrmachtsdeserteure und die norwegische Zivilbevölkerung: neue Forschungen

Magnus Koch (Helmut-Schmidt-Stiftung, Hamburg): Deserteure in der Stadtgesellschaft Hamburg

Panel 4: Grenzgänge – Perspektiven der Flucht
Chair: Martha Verdorfer

Michael Kasper (Montafon Museen, Schruns): Grenzgänger und Schleuser in die Schweiz

Lars Hansson (Universität Gøteborg): Escape to Sweden

Brigitte Entner (Universität Klagenfurt / Slowenisches wissenschaftliches Institut, Klagenfurt): Slowenische Soldaten – Organisierte Flucht innerhalb der Reichsgrenzen?

Panel 5: Italien und Jugoslawien als Schauplatz
Chair: Eva Pfanzelter

Francesco Corniani (Universität zu Köln): Deserteure der Wehrmacht in Italien (1943–1945): Identität, Zahlen, Motive, Reaktionen

Sabina Ferhadbegović (Universität Jena): Desertionen von einheimischen SS- und volksdeutschen Soldaten zu den jugoslawischen Partisanen

Kerstin von Lingen (Universität Wien): Kosaken und Kaukasier zwischen Kollaboration und Desertion

Carlo Gentile (Universität zu Köln): Dem Verbrechen entfliehen. Aussagen junger Wehrmachts- und SS-Deserteure in Kriegsverbrecherprozessen der Nachkriegszeit

Panel 6: Nachkriegshandeln – Erinnerung und Integration
Chair: Kerstin von Lingen

Johannes Kramer (Universität Wien / Landesarchiv Südtirol, Bozen): Südtiroler in der Wehrmacht und Fahnenflucht. Eine Einordnung

Robert Parzer (Dokumentations- und Informationszentrum Torgau): Fritz Schmenkel – Nachgeschichte eines Deserteurs in der DDR

Maria Pohn-Lauggas (Universität Göttingen): Deserteure im Familiengedächtnis

Panel 7: Erinnerungskulturen
Chair: Magnus Koch

Marco Dräger (Universität Göttingen): Deserteursdenkmäler in Deutschland

Künstlerkollektiv Total Refusal (Graz/Wien): How to Disappear: Fahnenflucht im digitalen Raum von Ego-Shooter-Spielen

Schlussdiskussion


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger